ALS DIE GESCHICHTE NOCH KEINEN NAMEN HATTE
Wir befinden uns um 2300 vor Christus: In England wird in der Steinkreisanlage von Stonehenge ein uns heute rätselhafter Kult zelebriert, während in Ägypten die Bauarbeiten der Cheops-Pyramide ihrer Vollendung entgegen gehen. Und während im Zweistromland von Mesopotamien das berühmte Gilgamesch-Epos entsteht und in den Tiroler Bergen der Mann aus dem Ötztal im Kampf durch einen Pfeil eines Feindes stirbt, steht Anuk mit seinen Gefährten einem Feinden gegenüber, der grösser und mächtiger ist, als alles, was die Stämme des Westlandes je gesehen haben. Sie reiten auf grossen und starken Tieren, die schnell sind wie der Wind und sie überall hintragen, wonach ihnen ihr finsterer Sinn steht. Wer vermag ihm Stand zu halten, diesem wütenden Sturm aus dem Osten, diesem Feind, der über die kleinen Völker des Waldlands kommt wie eine dunkle Flut?
„Anuk - Die dunkle Flut“ ist nach „Anuk - Der Weg des Kriegers“ und „Anuk - Der Feuerberg“ die dritte Saga einer archaischen, spannenden und eindrücklichen Kriegerlegende in der ausgehenden Steinzeit, in der Kupfer und Bronze das Leben der Menschen zu verändern beginnt. Das bildgewaltige Epos zeigt eine ursprüngliche und mystische Welt, und ist dennoch kein FantasyAbenteuer. Die Story hält sich weitgehend an die historischen Realitäten jener Epoche, zumindest soweit dies heute überhaupt rekonstruierbar ist, und die Kostüme und die Ausstattung zeigen grösstmögliche Authentizität. Die Anuk-Trilogie erzählt zwar von archaischen Kriegergesellschaften in Ländern ohne Namen und Grenzen. Sie erzählt von einer Zeit, in der die Menschen mit Bergen und Tieren sprachen und die dunklen Schatten der Wälder den Menschen den Schlaf und manchen sogar die Seele rauben. Der Film spielt von einer Epoche, in der sich die Kultur der Menschen erst zu formen beginnt: es ist eine Zeit, in der die Geschichte noch keinen Namen hat.
EINE SPANNENDE EPOCHE
Kupfer und Bronze
Der Plot des Filmes und des Drehbuchs ist nicht im luftleeren Fantasy-Raum angesiedelt, sondern hält sich durchaus an die Erkenntnisse der historischen und archäologischen Forschungen. Zwar hat in jener Zeit - zumindest in Mitteleuropa und in Amerika - die Geschichte noch keinen Namen, aber zu Anuks Zeit erblühen bereits mächtige Hochkulturen in der Türkei, am Nil, am Jordan und zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak. Um 2300 vor Christus beginnt ein neues Material die Kultur zu revolutionieren: Aus einer Legierung aus Zinn und Kupfer entsteht Bronze und schafft ein 6 Metall, das den durchaus wirksamen und ausgereiften Steinwerkzeugen überlegen ist, was sich vor allem in der Kriegsführung der Menschen niederschlägt.
Kriegerkulturen
Die Zeit zwischen 2'500 und 2'000 v. Chr. ist in Europa eine interessante und bewegte Epoche. Zahlreiche Umbrüche in Form von Wanderungen und Kriegszügen - namentlich aus dem Osten - sind archäologisch belegt. Es ist eine Ära der Veränderungen und Entwicklungen. Archäologische Forschungen, Felszeichnungen sowie erste Inschriften zeichnen unmissverständlich das Bild einer rauen und unruhigen Zeit, die durch zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen geprägt wird. Während sich in den Hochkulturen bereits die ersten organisierten Heerverbände formieren, ziehen ausserhalb dieser Kulturräume Jäger- und Kriegerstämme mit Pfeil und Bogen, Speeren und Bronzeäxten gegeneinander. Archäologische Erforschungen von Grabstätten der Jungstein- und Bronzezeit zeigen eindrücklich, dass es eine Epoche war, in der vollbrachte Kriegstaten viel galten und Mut und Tapferkeit zu den wichtigsten Tugenden der Menschen gehörten.
KRIEGER UND JÄGER
Authentisch und konsequent
Anuk ist als Film weder authentische Geschichtsvermittlung, noch historisches Reenactments. Dennoch ist, wie bereits erwähnt, das bronzezeitliche Epos nicht dem Fantasy-Genre zuzuordnen. Der selbstverständliche Umgang mit allem Übersinnlichen - dem Magischen und Animistischen - entspringt weder der Phantasie des Autoren noch einem allfälligen esoterischem Wunschdenken; er ist vielmehr die stringente Konsequenz, wenn man sich dem Denk- und Verhaltensmuster der Menschen des Neolithikums oder der frühen Bronzezeit annähern will.
Authentisch sind - genauso wie bereits in den vorherigen beiden Anuk-Sagas - die Werkzeuge und Waffen der Protagonisten. Die von Hand hergestellten Kleider, die Schuhe, die Messer und Köcher mit ihren Pfeilen entsprechen den geborgenen Artefakten des Ötztalmannes und weisen dadurch absolut präzise Authentizität auf; so entspricht auch Anuks Bronzeaxt in ihrer Form dem Kupferbeil des Gletschermanns. Auch sein Bogen ist ebenso aus dem leistungsfähigen, gelbrötlichen Eibenholz gefertigt wie weiland Ötzis Bogen.
Als Vorbild dienten und dienen die geborgenen Waffen des Gletschermannes aus dem Ötztal nicht zuletzt deshalb, weil er ungefähr zur selben Zeit lebte, in der Anuk an einem anderen Ort seinen Weg des Kriegers geht. Der Ötztalmann starb übrigens nicht an Erschöpfung, wie zuerst angenommen wurde, sondern erlag den Verletzungen einer Pfeilspitze. Nachforschungen haben ergeben, dass auf den Kleidern des Ötztalmannes gleich mehrere Blutgruppen zu finden sind; ein kaum zu widerlegendes Indiz, dass Ötzi allem Anschein nach in einer Kampfhandlung gefallen ist.
Reale Basis
Zweieinhalb Jahrtausende vor Christi Geburt finden sich offensichtlich nicht nur Jäger und Sammler; ganz offensichtlich scheint es, und dies illustrieren etwa zahlreiche erhaltene Felsgraffitis aus jener Zeit, eine wilde und unsichere Zeit gewesen zu sein. Parallelen zu anderen steinzeitlichen Völker auf anderen Kontinenten - etwa den Indianern Nordamerikas - lassen ebenfalls vermuten, dass eine weitgehend unbewohnte Welt die Menschen kaum friedfertiger werden liess. Ebenfalls in
jener Zeit lassen sich die ersten Eroberungs- und Unterwerfungsversuche ausmachen: Erstarkte Völker ziehen aus, schwächere Völker zu unterjochen, zu vertreiben, sogar zu vernichten. Tatsächlich sehen sich bereits um 2'500 v. Chr. die Bewohner Mitteleuropas - man nennt ihre Kultur heute die Kultur der Schnurkeramiker, weil sie mit Schüren Ornamente in ihre Töpferwahren pressten - mit Eindringlingen konfrontiert: aus dem Osten, später auch aus dem Süden, taucht ein neues Volk auf, das sich nicht nur das Wildpferd als Reittier nutzbar gemacht hat, sondern auch das Geheimnis der Kupferverarbeitung kennt. Die fremden Reiter der Glockenbecher-Kultur fallen in Mitteluropa ein, später führt sie ihr Eroberungsdrang sogar bis nach England. Die Meinungen der Forscher gehen auseinander, ob die Konfrontation der beiden Zivilisationskulturen friedlich oder kriegerisch verlief; für beide Möglichkeiten gibt es archäologische Indizien. Anzunehmen ist, dass der Einfall der fremden Krieger anfänglich durchaus gewaltsam erfolgte, in einer späteren Phase sich möglicherweise ein friedliches Nebeneinander einstellte.
Anuks Epoche ist eine unsichere, gefährliche, aber auch spannende und mitreissende Zeit. Sie ist voller Dramen und Konflikte - die erforderlichen Zutaten für eine packende Saga. Und in dieser Zeit, in dem sich der Mensch sowohl gegen die Natur als auch seine tatsächlichen oder vermeintlichen Konkurrenten stellen muss, ist eine Ära, die - gewollt oder ungewollt - Helden und Feiglinge, Edle und Schurken, Besessene und Seher gebiert. Und so dürfte der erste Prototyp eines James Bond, eines Rambo oder eines Ethan Hunt nicht erst in der Moderne, sondern viel früher, sogar bereits in grauer Vorzeit entstanden sein, in jener Zeit, als sich die Kriegerin Meha und der Krieger Anuk aufmachten, sich einem mächtigen, unbekannten Feind entgegen zu stellen.
Historische Fakten
Martialische Ansätze prägen tatsächlich auch die gesamte Vorzeit, so auch die griechischen Sagen, die von Prometheus bis Odysseus ebenfalls in der Bronzezeit und an der Schwelle zur Eisenzeit spielen.
Troja
Ob es sich beim trojanischen Krieg tatsächlich um einen derart monumentalen Krieg gehandelt hat, wie uns Wolfgang Petersens Hollywood-Streifen Troy glauben machen will, darf bezweifelt werden. Gut möglich, dass die Zahl der Krieger in diesem legendären, zehn Jahre dauernden Krieg, der sich am Ende der Bronzezeit um 1'200 v. Chr. ereignet haben soll, weit bescheidener war und auch die Stadt Troja an der Küste Kleinasiens wird, auch wenn wir die Fähigkeiten der alten Kulturen keinesfalls unterschätzen dürfen - ebenfalls bescheidenere Ausmasse gehabt haben
Argonauten
Bereits der Zug der Argonauten (etwa um 1'300 v. Chr.) erzählt von martialischen Begebenheiten und die Geschichte von Jason und Medea findet ein ebenso archaisches wie düsteres Ende.
Gilgamesch und Enkidu
Interessant ist auch der Kriegercharakter der Helden im Gilgamesch-Epos, Gilgamesch und Enkidu, die zusammen aufbrechen, das böse Ungeheuer Huwawa in einem finsteren Zedernwald zu erschlagen. Und dieses mesopotamische Ur-Epos entstand bereits 2'300 v. Chr., also just in jener Zeit, in der Anuk seinen Weg des Kriegers geht.
Abrahams Kriegsschar
Wie Stämme der Kupfer- und Bronzezeit Krieg führten, ist unter anderem sogar im Alten Testament zu lesen.: Das 14. Kapitel des Buches Genesis erzählt, wie im südlichen Israel - um 1'800 v. Chr. - also lediglich 500 Jahre nach der Zeit, in der Anuk angesiedelt ist - vier Könige gegen fünf Könige bzw. Stammesfürsten ins Feld ziehen und Abraham mit List und Tücke seinen nach der Niederlage der Könige von Sodom und Gomorra entführten Neffen Lot mit seiner eigenen Hausstreitmacht von 318 Kriegern befreien kann. Interessant ist hierbei, dass die Bibel in gewohnt wenigen, knappen und präzis formulierten Sätzen sogar Angaben über Abrahams Kriegstaktik macht. Sie zeigen, wie solche Stammesfehden mit den Mitteln des Partisanen- und Guerillakrieg geführt wurden.
Ein geheimnisvolles Reitervolk
Anuk und Meha stehen einem mächtigen Reitervolk gegenüber, das gekommen ist, alle zu töten oder zu knechten. Es macht im historischen Verständnis keine Schwierigkeiten, sich die mächtigen, kriegerischen Reiterhorden vorzustellen. Dass derlei gewaltsame Einfälle nämlich nicht erst seit den Hunnen und den Mongolen die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, zeigen mannigfache Beispiele in der Geschichte der Menschheit.
Ein eindrückliches Beispiel liefert uns einmal mehr das Alte Testament der Bibel: Zur Zeit der Richter (um 1'200 v. Chr.) fällt in Palästina ein mit den Philistern ein Feind ein, der alle Schrecken der Zeit übersteigt. Die Philister bleiben bis heute rätselhaftes; dieses äusserst kriegerisches Volk mit wahrscheinlich indogermanischer Wurzeln drängte, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht und Heuschrecken gleich, mit seiner gesamten Habe parallel zu Land und zu Wasser der MittelmeerKüste entlang südwärts drängt. Niemand vermag diesen Philistern zu widerstehen - nicht zuletzt, da sie über neue Waffen verfügen, die den Bronzeschwertern der Mittelmeervölker überlegen sind: die Philister kennen das Geheimnis des Eisens. Eisenerz zu gewinnen ist eine damals weitgehend unbekannte Kunst, obwohl Eisenerze, die durch Meteoriten auf die Erde gefallen sind, bereits in jener Vorzeit zu unermesslich wertvollen Werkzeugen, Waffen und kultischen Gerätschaften verarbeitet werden.
Die zu dieser Zeit erst erstarkenden Hebräer wohnten im Bergland Palästinas - eine für die Philister wenig interessante Gegend. Das fremde Kriegervolk konzentriert sich auf die fruchtbare Küsten-region und von den schützenden Bergen aus mochten die Hebräer mit ansehen, wie dieser unbekannte Feind ins Land der Kanaaniter einfiel und deren Kultur fast vollständig vernichtete. Damit war der Hunger der Philister jedoch noch lange nicht gestillt: in ihrer ganzen Masse zogen sie weiter nach Süden mit dem Ziel, auch das Reich der Ägypter zu unterwerfen. Nur das entschlossene Handeln der Ägypter unter Ramses III. vermochte den Siegeszug der Fremden zu stoppen; die Philister wurden im Jahr 1'186 v. Chr. sowohl zu Land als auch zu Wasser (u.a. in einer gewaltigen Seeschlacht - der ältesten bekannten der Menschheitsgeschichte) besiegt.
Die geschlagenen Philister übrigens zogen sich danach in den heutigen Gazastreifen zurück und gründeten ein neues Reich, das dann für die nachfolgenden zwei Jahrhunderte den Hebräer das Leben schwer machte. Sogar der erste hebräische König, Saul, und seine Söhne fielen in den Schlachten gegen den Feind. Erst um 1’000 v. Chr. gelang es Sauls Nachfolger, König David, die Philister zu schlagen und endgültig zu besiegen.
Fakten und Spekulation
Auch wenn man bei einem Film, der in einer frühgeschichtlichen Epoche spielt, auf Phantasie und Spekulation angewiesen ist: Anuk - Die dunkle Flut spielt sich nicht irgendwo zwischen Mittelerde und Fantasien, sondern ist vielmehr Teil der realen Welt und der effektiven Menschheitsgeschichte. Natürlich, über die Völker ausserhalb der Hochkulturen wissen wir wenig, auch über ihre Vorstellungen der Welt, der Zeit oder des Jenseits können wir lediglich spekulieren. Hilfreich allerdings sind die Erfahrungen und Erzählungen anderer Steinzeitkulturen: die der Indianer etwa, der Urvölker in Afrika, der Inuit in den Polarregionen oder der Aborigines in Australien. Vergleiche unter den verschiedenen Steinzeitkulturen ergeben eine mystische, magische Weltsicht, in der alles belebt ist und der Kontakt mit dem Jenseits - seien es Ahnen oder Geister - allgegenwärtig ist.
Sioux und Cheyennes
Die Anuk-Macher haben während zwei Filmproduktionen (Fremds Land“, 2003 und Bodmers Reise, 2008) einige Zeit in Indianerreservaten verbracht und dort in langen Gesprächen - vor allem mit dem Cheyenne-„Ceremony Man“, Chief Johnny Russell und dem Brulé-Sioux Medizinmann Howard Bad Hand - einiges über die gleichermassen archaische wie durchaus hochstehende spirituelle Denkweise der Natives Nordamerikas erhalten. Dass Anuks neolithischen Zeitgenossen ähnliche Überlegungen anstellten und ähnliche Glaubensvorstellungen hatten, ist immerhin nicht abwegig.
Am Anfang war das Feuer
Auch wenn es also neben Spekulation dennoch viel Phantasie braucht, eine Welt zu rekonstruieren, in der die Geschichte noch keinen Namen hat: Ein Fantasy-Spektakel ist die Anuk-Saga deswegen nicht, zumindest nicht mehr als Filme wie Jean-Jaques Annauds prähistorische Feuersuche La Guerre du Feu, oder Ayla - The Clan of the Bears (mit Darryl Hannah) und noch weniger Roland Emmerichs animationsreiches Steinzeitspektakel 10'000 B.C.